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PROLOG
Ich kann kein Volk mir denken, das zerriß'ner wäre, wie die Deutschen." Hölderlin (um 1780)
In vielen Städten, an vielen Orten, an Wänden, Mauern, Plakatflächen, Bauwagen, Häuserecken, ..., kurz, an weithin sichtbaren Flächen, mehren sich für ordnungsliebende, dem Wohlstand und Konsum verhaftete, sich um den eigenen Besitz ängstigende Bürger in zum Teil „besorgniserregender Weise" individuelle Beschriftungen. Von einigen — ästhetisierend verklärend — als "Graffiti" bezeichnet, trifft dies am wenigsten den Sachverhalt. Auch diese Inschriften politisierend als "Parolen" abzutun, macht die Einseitigkeit der Betrachtungsweise als Haltung und Verhaltensweise der Betrachter deutlich: Dies sind die "Anderen", die Außenseiter, mit denen wir nichts zu tun haben. Ein Feindbild wird geschaffen, wie es von den Medien dann in die Öffentlichkeit projiziert und dadurch zur Meinung wird, der "man" sich anschließt und die wiederum solche Haltung verfestigt.
Sprache, die von Politikern und Medien als Mittel missbraucht wird, um "Nichts-zu-sagen" und "Alles-zu-meinen", die durch Reden mehr verschweigt als sie mitteilen will, die als Produktion von "Worthülsen" Dialogfähigkeit verhindert, wird durch diese individuellen Beschriftungen auf einen neuen, in vielen Fällen treffenden und dadurch betroffen machenden Sinn gebracht: Sie werden zu "Feststellungen" einer Situation, einer Zeiterscheinung, einem Zustandsbild heutiger Gesellschaft.
Zustandsbild jedoch, das nicht nur einfach da ist, sondern eine Entstehungsgeschichte hat. Zustandsbild, das erst sichtbar wurde im Schnittpunkt vieler Faktoren, die bisher schleichend sich in einen scheinbar zu aller Wohl funktionierenden Apparat einnisteten und als erste Anzeichen einer sich verändernden Situation massiv verdrängt wurden.
Nun, da diese Beschriftungen an Mauern und Wänden den Zustand benennen — und dadurch auch erst bewusst machen —, nun, wo nichts mehr zu verdrängen ist, wo Strafandrohung die Situation nicht bessert noch ungeschehen macht, sondern eher verschlimmert, zieht Ratlosigkeit in die Gemüter ein, die vor lauter "Maloche" für die Zukunft — die scheinbar sichere und doch immer unsicher werdende — Empfindsamkeit und Gefühl verloren haben, sich selbst die Sicht auf eigenes Innenleben und das ihrer Mitmenschen — schlimmer noch: das ihrer Kinder! — verstellt haben, weil die Sicht auf die Gegenstände — auch die eigenen Häuser, die nun besprüht werden — wichtiger schien. Auch komplizierter. Ratlosigkeit als Zeichen von Unsicherheit und Verunsicherung. In jedem Fall jedoch als Effekt von Unfähigkeit, mehr zu begreifen als das, was man nur angreifen und besitzen kann: Gegenstände, allenfalls noch den eigenen Bauch, wenn er richtig vollgefressen ist.
Nicht umsonst schrieb Bert Brecht, dass erst das Fressen, dann die Moral kommt. Da es in der gegenwärtigen Situation jedoch selbst für die Moral zu spät ist, besteht die Gefahr, dass man zur Gewalt greift (auch gerade weil man sich mit Begriffen wie „Gesetz und Ordnung“ zu legitimieren meint). „Argumentationshilfen“ scheinen dafür gerade diese Beschriftungen, Inschriften, ... zu sein: als Tatbestand der Sach- und Eigentumsbeschädigung und als Inhalt zugleich: „BOMBENSTIMMUNG". Die Mühe macht man sich nicht, diese Inschriften auf ihren tatsächlichen gemeinten Gehalt hin abzuklopfen, die Situation zu hinterfragen, die sie erst ermöglichten. Die aggressive Absicht wird unterstellt. Die eigene Angst verhindert. Form und Inhalt der Inschriften als Instrument der Informationsvermittlung zu begreifen und zu akzeptieren — vielleicht sogar als Hilfeschrei? Zu begreifen aber auch als eine Informationsvermittlung, die direkter, ehrlicher, aggressiver und witziger, kurz: feststellend und nicht beschreibend ist.
Die dadurch zwangsläufig im Gegensatz zur Sprache der Medien, des Staates, der Erwachsenen steht, deren formale Perfektion in einer unpersönlichen Aussageweise Wirklichkeiten entwirft, die nicht (mehr) der Realität entsprechen. Man vergisst, dass Direktheit und Ehrlichkeit in einer Welt voller Lüge ("ALLES LÜGT") immer aggressiv wirken muss, immer etwas mit Aggression zu tun hat — um sich bemerkbar zu machen. Jedoch weniger mit der Aggression dessen, der solche Inschriften an die Wand sprayt, ritzt, schreibt, malt, ... als mit der Aggression derjenigen, die sich dadurch attackiert fühlen: durch das Bewusstsein eigener verdrängter Aggression, die sich sonst nur äußert im Umgang mit der eigenen Familie, in sexuellen Phantasien, im Straßenverkehr, ...
Bedrohlich erscheint nicht eigenes Verhalten, sondern immer nur das des Anderen. Die Angst vor dem Anderen, als Angst auch vor dessen Andersartigkeit, ist oft die unbewusste Angst vor dem Eingeständnis der eigenen Andersartigkeit, das stärkster Verdrängung unterliegt, die sich nach außen hin als Abwehr manifestiert. Abwehr beinhaltet Einseitigkeit der Argumente. Einseitigkeit der Argumente bedeutet Negierung der Argumente des Anderen — im speziellen Fall der "FESTSTELLUNGEN" — der Argumentationsfähigkeit der "Inschriften-Produzenten".
Die sogenannte Sprachlosigkeit der Jugend ist nur eine rationale Umschreibung für den eigenen Verdrängungsmechanismus. Wie wenig sprachlos diese Jugend wirklich ist, zeigen gerade diese Inschriften, die von Phantasie und Erfindungsreichtum zeugen. Die, wenn überhaupt Verweigerung, dann Verweigerung einer die Wahrheit verschleiernden Sprache ist. Einer Sprache, die nicht mehr der Verständigung dient, sondern bestenfalls der Rechtfertigung eigenen Verhaltens und dadurch auch immer wieder solches Verhalten bewirkt!
Das Selbstverständnis dieser Jugend bedarf keiner Rechtfertigung, die nur Unterwerfung unter Verhaltensnormen bedeutet, die nicht die eigenen sind. Dieses Selbstverständnis bedarf lediglich der machbaren Akzeptanz. Dass dieses Selbstbewusstsein nicht frei von Ängsten ist, dass hier aufzugreifende Gemeinsamkeiten liegen, wird belegt durch die pazifistischen Inschriften.
Dass es auch resignativ ist, zeigen andere — "WIR SIND DIE TÜRKEN VON MORGEN" — "1984" — "WIR WISSEN NICHT WAS WIR WOLLEN, ABER DAS MIT GANZER KRAFT" —, und dass Gemeinsamkeiten beschworen werden, wird u.a. deutlich in "Ihr könnt uns nicht vernichten, denn wir sind ein Teil von Euch", "Leben wollen wir alle", ..., wenig Grund also, nur das Gegensätzliche zu suchen: Es bleibt der gleiche Strang, an dem wir alle ziehen, nur wird wenig begriffen, dass es auch das gleiche Ende sein muss!
Vielleicht verhilft zu dieser Erkenntnis auch das "GUTEN MORGEN" in seiner intelligenten Vieldeutigkeit, wenn man alle Ausdrucksvarianten eines solchen Wunsches mit Herz sich auf der Zunge zergehen lässt. So betrachtet bleibt auch das "hm..." nicht nur Synonym einer vielleicht angenommenen Ratlosigkeit, sondern wird treffender über die Bestätigung eines Sachverhaltes zum Ansatzpunkt einer Konfliktlösung.
Und einseitig bliebe auch die Interpretation von "Nehmt Abschied" im Sinne der Haydenschen Abschiedssymphonie oder des wunderbaren Bluestitels "Everytime l say good-bye, l died a little", sondern als Aufforderung, von seiner Haltung Abschied zu nehmen, die im Anderen immer nur den Täter und nie das Opfer sieht. Vielleicht gilt deshalb auch mehr für die Angst als die Hoffnung: „ES WAR JA NUR EIN TRAUM". — Jürgen Schweinebraden [1982]
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►ÜBER JÜRGEN SCHWEINEBRADEN: Geboren mit dem Namen Jürgen Walther Herrmann Schweinebraden lernte er früh mit den Schwierigkeiten, die so ein Name mit sich bringt, umzugehen. — Ob in der Schule oder in der Lehre, ob bei Studium der Psychologie oder dem der Industriesoziologie, Jürgen Schweinebraden versteht es mit Witz und Charme die vielen Geschichten, die sich um die Irrungen und Wirrungen rund um seinen Namen ranken, zu erzählen. Doch mehr als diese Anekdoten bleibt sein Engagement für die Kunst in der DDR in Erinnerung. — Die Gründung seiner Wohn- und Alternativgalerie "EP Galerie Jürgen Schweinebraden" mit ihren Ausstellungen und Musikveranstaltungen machte vor allem neue Kunstformen aus Westeuropa und Westdeutschland in der DDR bekannt. Durch sein Vorbild inspiriert, wurden über 30 ähnliche Galerien in der ganzen DDR eröffnet, die zumeist ohne jegliche Genehmigung seitens des Staates arbeiteten. Er trug somit maßgeblich zur Schaffung einer künstlerischen Gegenöffentlichkeit in der DDR bei. — Nach mehreren Ordnungsstrafverfahren und einer Verurteilung wegen "Herstellung illegaler Druckerzeugnisse" siedelte er im November 1980 nach Westdeutschland über. Dort angekommen, übernahm er zahlreiche Posten in Galerien und Kunstvereinen, so war er z.B. Direktor des Kunstvereins Hamburg. Heute arbeitet er als freischaffender Galerist und Publizist. © mdr, Leipzig 2002
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►FESTSTELLUNGEN | Graffiti-Dokumentation | 33 Original-Fotopostkarten | Kassette, 15,3 x 10,9 x 1 cm | 100 Expl. | EP Edition Jürgen Schweinebraden, Niedenstein 1982 | Dietmar Kirves' FESTSTELLUNGEN, in dieser Kassette in der Qualität von Echt-Fotos vorgelegt, sind mehr als nur ein weiterer Beitrag zur Situation, Sponti-Sprüche zu dokumentieren und der SZENE Mut zu machen. Sein Interesse und künstlerisches Konzept gilt der Sprache und der Geste derer, die diese Sprüche an die Wand sprayen. ►ep-verlag
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